Debatte

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Debatte zu PHV und Wolfsgärten

Am 23.01.2019 um 00:55 schrieb Joerg Schmidt-Rohr:

Hallo,
als jemand, der seit 20 Jahren im Flüchtlingsbereich tätig ist, wollte ich euch – vor allem morgen zur Sitzung – noch ein paar Infos geben.
Vorab – ich habe viele Bedenken gegen den Standort, auch der Neubau eines Zentrums/Lagers ist bedenklich. Aber ich finde es nicht eine tatsächliche riesige Katastrophe, es ist eher das „symbolische“ örtliche Abschieben.
Zu den Fakten und meinen Thesen:

  1. Flüchtlinge werden eher länger als kürzer im Ankunftszentrum bleiben. 6–8 Wochen sind der Durchschnitt, manche leben dort Monate, andere Tage. Die Tendenz geht zu länger, weil die Aufenthaltsdauer für diejenigen, die keine Bleibeperspektive haben oder aus sicheren Herkunftsstaaten kommen eh in Lagern sein soll. Das steht zum Teil schon im Gesetz und ist eine sich verstärkende Tendenz.
  2. Integration ist eine schöne Idee, tatsächlich darf in die Lager niemand so einfach rein. Die Bewohner dürfen raus (noch), aber Besucher müssen eine ziemliche Prozedur über sich ergehen lassen. Das ist in allen Landesaufnahmestellen so. Und das wird sicher nicht besser, Zäune Einlasskontrollen – eine andere Lagerwelt erleben wir nicht mehr.
    Von daher wird das Lager immer, egal wo es ist, ein „Fremdkörper“ in der Umgebung sein. Daher macht auch PHV nicht inhaltlich Sinn.
  3. Das Lager sollte zu einer Stadt verkehrlich gut angebunden sein. Man sollte in eine Stadt und zum nächsten Bus gut hinlaufen können. Einkaufen, das Land erleben, Freundeskreise und Ehrenamtliche, Anwälte, eigene Freunde … das ist für alle Lagerbewohner sehr wichtig. Daher war bisher PHV auch nur wegen der Shuttle erträglich und das ist bei den Wolfsgärten richtig bescheiden. Verkehrliche Anbindung also enorm wichtig. Alle Aufnahmestellen in Karlsruhe sind zwar auch dezentral, aber verkehrlich wirklich gut angebunden. Ellwangen nicht, da gabs mächtigen soziale Frust.
  4. Ein Neubau zementiert ein Lager in Heidelberg für eine sehr lange Zeit. Noch sagt man, daraus soll nicht abgeschoben werden. Ich denke, das wird sich ändern. Die sogenannten Ankerzentren, wobei faktisch sind die Landeserstaufnahmestellen das fast schon, wird es – mit anderem Namen – auch in BW geben. Und ob das immer ein „Ankunftszentrum“ bleibt oder irgendwann eine normale Landeserstaufnahmestelle wird? Rechtlich ist es ohnehin kein Unterschied. Und ob die Kommune da soviel Einfluss hat? In 10 Jahren ist der weg, denn dann gäbe es ja den Bebauungsplandruck und den PHV Konversionsdruck nicht mehr.
    Und dann wird das Land auf Heidelberger Befindlichkeiten husten.
  5. Politisch ist ein solches Lager immer extrem unschön, zumindest für jeden der nicht die derzeitige Abschottungspolitik und inhumane Behandlungen von Flüchtlingen gut findet. Also warum soll man das Land beim Bau eines solchen Lagers überhaupt unterstützen?
    Sollen sie doch bauen, wo der Pfeffer wächst.
  6. Warum muss man einen Platz auf Heidelberger Gemarkung finden? Bei einem Neubau scheidet ja das Argument der eh schon da seienden Gebäude aus. Und ob die Befreiung wirklich was Gutes ist? Ich denke es ist für eine Stadtgesellschaft besser nicht einen solchen Fremdkörper sondern ganz normale zu integrierende Geflüchtete zu haben.
  7. Der geplante Bauplatz ist wirklich von der Lage bescheiden, gibt es da nichts besseres in BW ? Am Rande einer größeren Stadt wie Mannheim, Freiburg, Stuttgart? Der Platz zwischen Bahndamm und Autobahn … aber auch das ist eine landwirtschaftlich genutzte Fläche. Und man müsste ja wohl eh baurechtlich eine Sondernutzung beschließen. Denn selbst als Industriefläche wäre das ganze bisher zu abgelegen. Nachdem PHV weg ist gibt es kein Argument mehr für Heidelberg, außer das alle Mitarbeiter jetzt in der schönen Kurpfalz wohnen … und das finde ich reicht als Begründung wirklich nicht aus.

Also – meine Argumente aus der Sicht von jemandem der viele Lager und 30 Jahre Asyldebatte kennt.
Heidelberg sollte dem Land keine Alternative anbieten sondern sagen, dass wir das Lager nicht wollen. Mit dem PHV in der Flüchtlingskrise ist die Pflicht für die Stadt getan, es gibt wegen der Abschottungspolitik eh nur noch wenige die es schaffen und es gibt keinen „Notstand“ mehr bei der Erstaufnahme. Warum ist Mannheim aus der Nummer raus und HD hat den Schwarzen Peter.

Jörg

Am Mittwoch 23.Januar 2019 um 21:22 schrieb Judith Marggraf:

Lieber Jörg,
mit deiner Mail machst du eine große und interessante Diskussion auf.
Vorab: In einem hast du sicher völlig Recht: Es ist nicht wirklich wesentlich, ob das „Ankunftszentrum“ auf PHV bleibt oder in den Wolfsgärten neu gebaut wird. Recht hast du sicher auch mit deiner Prognose, dass HD diese oder eine solche Einrichtung dann vermutlich „gebucht“ hat. Auch richtig ist die Überlegung, ob eine Stadt nicht mit einigen (nach dem Königsteiner Schlüssel) zugewiesenen Asylbewerbern besser fährt als mit einer solchen Dauer-Einrichtung.
An drei Punkten möchte ich aber dagegen halten:

  • Wir haben seit 2016 ein ganz schön gutes Netzwerk an medizinischen, Betreuungs- und psychosozialen Hilfsangeboten aufgebaut. Das kann man nicht verpflanzen und das sollte man auch, im Interesse der Ankommenden, stützen.
  • Ein Neubau muss Mindestanforderungen an Raum, Räumen, Anbindung und Qualität genügen (wir haben dazu einen Antrag gestellt). Hier ist unbedingt darauf zu achten, dass keine Billig- und Minimallösungen realisiert werden. Da hat die Stadt über das Bebauungsplanverfahren Einfluss!
  • Vor dem Hintergrund zunehmender Migrationsgründe bin ich persönlich für solche Ankunftszentren! Klar, da müssen gesetzliche Klärungen und Regeln entwickelt werden – aber wir brauchen geregelte und geschützte Ankunftsmöglichkeiten, in denen dann über das weitere Verfahren entschieden wird. Wenn wir in Heidelberg eine solche Einrichtung bieten können – so what!?

Herzlich
Judith

Am Donnerstag, 24. Jan. 2019 um 00:17 Uhr schrieb Hans-Martin Mumm:

Liebe alle,
ich denke nicht, dass Jörg recht hat. Nachdem Heidelberg das Ankunftszentrum auf PHV zugelassen hat, ist Heidelberg als Standort gesetzt. Daher der Vorschlag Wolfsgärten, über den wir bereits vor einem Vierteljahr informiert wurden. Da kommen wir nicht raus. Das Land könnte von der Bima ohne unsere Zustimmung ein Areal kaufen oder mieten. Unser Interesse ist, eine möglichst gute Ausstattung des Zentrums zu vereinbaren. Die Option, ganz auf ein Ankunftszentrum zu verzichten, existiert nicht. Im Moment könnte aber unsere Zustimmung zu irgendeinem Standort von Qualitätsforderungen an die Ausstattung geknüpft werden.
Gruß
HM

Am 28.01.2019 um 01:57 schrieb Joerg Schmidt-Rohr:

Liebe alle,
Ich möchte auf die 3 Argumente – 3 von Judith, zwei von Hans Martin – noch einmal eingehen.
Vielleicht noch einmal vorab die formale Ebene.
Ein Ankunftszentrum – und ich abstrahiere jetzt einmal vom PHV – ist eine politisch hochgejazzte Nummer, die im Zuge der sogenannten „Asylkrise“ von 2015 kreiert wurde.
In den Jahren davor, als es eben sehr wenige Flüchtlinge gab, erfüllte genau diese Funktion der Ankunftszentren die Landeserstaufnahmestelle.
Erster Anlauf, Asylverfahren und RP aus einer Hand, gemeinsame Registrierung, „theoretisch“ schnelle Entscheidung, medizinische Abklärung. Sozialbetreuung, Weiterverteilung.
Genau diese Einrichtung steht auch im Asylgesetz. Im Asylgesetz gibt es keine Ankunftszentren – übrigens auch keine „Ankerzentren“. Deswegen ist auch die Einrichtung im PHV einfach nur eine personell extrem gut ausgestattete Landeserstaufnahmeeinrichtung mit genau all den Dingen, die es früher in der Durlacher Allee 100 in Karlsruhe gab.
Nun hat Heidelberg diese Erstaufnahme bekommen. Karlsruhe wird ausdifferenziert, z.B. ist das BAMF in KA an eine andere Stelle gezogen, es wurde eine weitere LEA in der Felsstraße gemietet, in der z.B. auch die Vorführungen bei ausländischen Delegationen und die Abschiebungsvorbereitungen laufen.
Die neuen gesetzlichen Regelungen sehen vor, dass die „schlechten“ Asylbewerber – die aus den sicher Drittstaaten, -Tendenz zur Ausweitung – die der Asylanträge offensichtlich unbegründet sind etc. dauerhaft biss zur Aufenthaltsbeendigung in der Erstaufnahme bleiben müssen. Mit Arbeitsverbot und 6 Monaten keine Schule und alles was dazu gehört.

Und ich bin mir völlig sicher, das wird -auch wenn es gerade uns nicht gefällt- in den nächsten Jahren nicht besser.
Heidelberg ist in diesem großen Apparat derzeit nur ein Baustein – inzwischen ein wichtiger.
Und wenn das Land baut, werden wir alles dies dauerhaft nach Heidelberg bekommen. Derzeit behauptet die Landesregierung, dass es keine Rückführungen aus den Erstaufnahmen gibt – ist teilweise einfach gelogen. Und bis jetzt sind noch keine Verwaltungsrichter in die Ankunfts-/Erstaufnahmeeinrichtungen gezogen. In 3 Jahren keine Grünen mehr in der Regierung und es kommt.Es kommt ja schon jetzt in kleinen Scheiben unter dem Hardliner Strobel. Wer die faktischen Entwicklungen im Detail seit 2014 mitbekommt könnte verzweifeln. Die derzeit einzige „Gegenkraft ist der Fachkräftemangel der Industrie. Und dann fahren die Busse eben nicht mehr von der Felsstraße zum Baden-Airport sondern von Heidelberg. Wenig sichtbar, da gut abgelegen.

Okay – Heidelberg ist an sich nicht schlechter als Karlsruhe oder viele andere Orte. Und man könnte so ein Lager auch in ein abgelegenes Schwarzwaldtal setzen – das wäre dann noch schlimmer.
Nur, wir haben hier nur zwei sehr schlechte „räumliche“ Alternativen.
PHV halte ich, auch wenn Asyl AK und andere das für eine Lösung halten für keine wirkliche. Nicht weil es Wohnungen kosten würde oder nicht ins Image des Wissenstadtteils passen könnte. Sondern weil mir das Argument der Blockade der Entwicklung einleuchtet und vor allem weil es ein Ghetto ist. Ich benutze das harte Wort. Es ist eine sehr restriktive Einrichtung. Klar, die Bewohner dürfen raus und einkaufen etc gehen. Aber Tore, Zäune, Kontrollen, ohne einen Riesenaufwand darf kein Normalbürger rein Und ich bin überzeugt, dass dies nicht besser wird. Auch wenn ich es mir natürlich politisch nicht wünsche und für das Gegenteil arbeite, es ist so.

Und in einem neu gebauten Zentrum, das wette ich, wird das potenziert.
Ich halte es für eine völlige Illusion über das Baurecht besonders gute Bedingungen für die Flüchtlinge zu bekommen. Das Land wird eh nicht sparen, alleine um seine vielen hundert Mitarbeiter gut unterzubringen. Das einzige wirkliche Argument für Heidelberg ist ja auch, dass die jetzt alle da arbeiten und nicht so weite Arbeitswege haben sollen. Und die Zeit von Containern und Baracken ist vorbei. Das wird optisch sicher ein richtig schönes Lager. (Mir liegen heute am Holocaust Gedenktag ein paar sehr sehr böse Vergleiche auf der Zunge, aber das wäre dann wirklich sehr polemisch)

Natürlich hat das Land aktuell Kreide gefressen, denn es braucht die Verlängerung auf PHV, will vermeiden dass Heidelberg die baurechtlichen chirurgischen Instrumente auspackt. Und brauchen ja auch die Zustimmung zu den Wolfsgärten.
Aber wenn das Ding mal steht ist es vorbei.Und es steht für einen sehr langen Zeitraum, da es dann kein Provisorium wie PHV ist.
Und die Wolfsgärten sind nun mal ein extrem bescheidener Ort, weil die äußere Lage noch die Isolation und den Lagercharakter verstärkt. So ein Zentrum muss nicht neben seinem Zaun noch Autobahnen und Bahnlinien als weitere Abschottung haben.Den Lärm bekommt man vielleicht technisch ein Stück in den Griff – aber da wird es wegen der Kosten Kompromisse geben müssen- aber die schlechte Lage kann man nicht verändern.
Es gehört an eine verkehrlich gut angebundene Peripherie einer Großstadt.
@ Hans Martin – Warum kommt Heidelberg aus der Nummer nicht raus und muss die Wolfsgärten anbieten ? Mannheim kam doch auch aus der Nummer raus. Und die haben viel viel mehr Platz.
PHV gibt es Zusagen und Verträge, oder?
Steht da drin, dass Heidelberg einen Platz für ein Ankunftszentrum stellen muss?
Und dass die BIMA dem Land einen Teil von PHV überlässt wäre gegen alle Absprachen und ist doch auch politisch kaum durchsetzbar. Und wenn das Land da bleibt wo es ist sind alle Pläne für das PHV tot und wenn sie es innerhalb des PHV verlegen haben sie die gleichen Baukosten und den gleichen Aufwand und brauchen auch ewig.Allein weil es keine Entlastung auf dem Wohnungsmarkt gäbe, was ja auch politisch „theoretisch“ alle Ebenen für Heidelberg als notwendig anerkennen.

Soweit mal.
Von daher ist der Beschluss, soweit er in der RNZ stand, erst mal weiter zu prüfen, dem Land auch zu sagen sie sollen auch anderswo suchen und die Nachteile beider Lösungen zu benennen ein richtiger.
Mal soweit
Jörg

Am Freitag 1. Februar 2019 um 00:03 schrieb Judith Marggraf:

Hi Jörg,
mich verwirrt und beschäftigt deine Vehemenz, mit der du für oder gegen was eigentlich argumentierst.
Es scheint mir doch um Folgendes zu gehen: Behält HD wo auch immer dieses Ankunftszentrum, haben wir de facto eine LEA (Landeserstaufnahmestelle) und das vermutlich auf unbestimmte Zeit.
Lehnt die Stadt das ab (mit dem Risiko, dass Land und BIMA dann doch eine Fläche des PHV okkupieren), werden wir wieder Zuweisungen nach dem Königsteiner Schlüssel haben.
Aus meiner Sicht bedeutet das auch eine Entscheidung zwischen für die Stadtgesellschaft wenig folgenreicher „Erstankunft“ und einem Engagement für Integration. Eine Option, bei der es aus meiner Sicht eher um die Integrationsaufgabe gehen sollte, zumal in unserer Stadt das „Klima“ dafür positiv ist. Alles eigentlich eine einfache Entscheidung.
Was mir überhaupt nicht klar ist: Die Zahlen der Ankommenden sind ja extrem zurück gegangen – warum kann Karlsruhe das nicht wieder stemmen? Technik und Expertise aus HD könnten doch sicher problemlos verlagert werden…
Danke auch hier für deine kompetente Erklärung!
Judith

Am Freitag 1. Februar 2019 um 00:23 schrieb Jörg Schmidt-Rohr:

Nur kurz
Karlsruhe könnte das jetzt nicht mehr so einfach, weil sie die Strukturen in Karlsruhe dezentralisiert haben. RP jetzt komplett in der Durlacher Allee mit vielen Sachbearbeitern, die „alle “ Geflüchteten in BW „betreuen“- also z.B. alle Abschiebungen machen. Mit großem zweiten Gebäude in der Felsstraße, am anderen Ende von Karlsruhe. Das BAMF ist in die Pfitzerstraße gezogen etc.
Sie haben diese Struktur der einheitlichen Bearbeitung in den letzten 2 Jahren aufs PHV konzentriert.
Sonst wäre es schon seit ca. 1 Jahr überflüssig, wenn sie noch so arbeiten würden wie vor der „Welle“.

Aber sonst hast du recht. Königsteiner Schlüssel ist zwar zwischen den Bundesländern aber der BW Verteilerschlüssel des IM/RP ist ähnlich.
Für Heidelberg wäre es inhaltlich am besten einfach ganz normal Flüchtlinge zugewiesen zu bekommen und mit denen umzugehen.
Und es sollte keine Lager mehr geben, aber es wird sie geben und wenn es sie schon geben muss (weil es politische Mehrheiten wollen) dann nicht in einer so ausgrenzenden Lage wie den Wolfsgärten.

Aber wie gesagt, die kritische Haltung des Ausschusses und des GR sind da richtig.
Und dass sie uns politisch mit dem PHV erpressen können kann ich mir schwerlich vorstellen.

Jörg

Rhein-Neckar-Zeitung vom 01.02.2019

  • Posted by GAL (ck)
  • On 1. Februar 2019

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